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Wenn Wasser zum Risiko wird

«Ohne den Zugang zu sauberem Wasser lässt sich die Schistosomiasis kaum nachhaltig bekämpfen»



Andrea Graf sitzt im Garten des historischen Seminars an der Kanonengasse in Basel. «Curiosità» steht eintätowiert auf ihrem Oberarm. Und wirklich: Die «Neugierde» ist einer ihrer wichtigsten Triebfedern. Die Wissenschaftshistorikerin arbeitet seit zwei Jahren an einem Dissertationsprojekt über die Geschichte der Schistosomiasis (Bilharziose), einer heute weitgehend vernachlässigten parasitären Wurmerkrankung in Madagaskar. Ein Gespräch über die wissenschaftliche Forschung in Afrika, die Bedeutung der Armut bei der Eindämmung von Epidemien und die unbeabsichtigten Folgen der Entwicklungshilfe.


Andrea Graf, die Schistosomiasis ist sowohl in der biomedizinischen Forschung wie in der Geschichte ein Randthema. Worin besteht Ihre Faszination, sich historisch diesem

Thema anzunähern?

«Die Schistosomiasis galt nicht immer als eine vernachlässigte Krankheit. 1966 startete das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) ein grosses Projekt zur Schistosomiasis-Kontrolle in der BasMangoky-Region in Madagaskar. In den 1980er- und

1990er-Jahren gab es grossangelegte Eliminierungsbestrebungen in Ägypten und in China. Mich interessiert die Frage, weshalb die Geschichte zwischen gesteigerter Aufmerksamkeit und Vernachlässigung oszilliert. Es gilt, den Gründen nachzuspüren, weshalb eine Krankheit, von der weltweit Millionen Menschen betroffen sind, in den Schatten der Geschichte zurücksinkt.»


Und Ihre Antwort?

«Die einfache und viel gehörte Meinung dazu ist: Die Mehrheit der Menschen, die von der Schistosomiasis betroffen sind, gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen. Ihre Kaufkraft ist so gering, dass seitens der Pharmaindustrie kaum Anreiz besteht, neue Medikamente gegen diese Krankheit zu entwickeln. Dies ist zweifellos richtig, doch das Problem ist vielschichtiger. Zur Armut der Menschen gesellt sich der politische Unwille der betroffenen Länder selbst, das geringe Prestige vonseiten der Forschung und – davon abhängig – die spärliche Forschungsfinanzierung. Zudem: Anders als zum Beispiel die Malaria tötet die Schistosomiasis unbehandelt nicht innert weniger Tage. Vielmehr vollzieht sich der Krankheitsverlauf schleichend, die Symptome werden von der Bevölkerung oft nicht oder zu spät als solche erkannt, ausserdem werden die Krankheitsfälle von den Gesund-

heitsbehörden kaum statistisch erfasst – zumindest ist das in Madagaskar so der Fall.»


Um das Jahr 1960 präsentierte sich in Madagaskar ein anderes Bild …

«Ja. Wie zahlreiche andere afrikanische Staaten nach der Unabhängigkeit beschritt auch Madagaskar den Pfad der ‹Entwicklung›. Ein von der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der madagassischen Regierung finanziertes Bewässerungsprojekt im Delta des grössten Flusses Madagaskars, des Mangoky, im Südwesten der Insel, versuchte den Baumwoll- und Reisanbau in der Region anzukurbeln. Schon früh liessen sich kritische Stimmen vernehmen, dass sich durch die Bewässerungsanlagen der Lebensraum der Süsswasserschnecke, des

Zwischenwirts des Schistosomiasis-Erregers, vergrössert. Anders gesagt: Die ländliche Entwicklung führte in der Bas-Mangoky-Region die Schistosomiasis im Schlepptau.»


Und mit der Schistosomiasis kam 1966 das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut in die Region?

«1966 war ein Jahr, in dem sich die Ereignisse überstürzten: Die Ciba in Basel brachte Ambilhar, ein Medikament zur Behandlung der Schistosomiasis, auf den Markt. Die Regierungen der Schweiz und Madagaskars unterzeichneten ein Abkommen zur technischen Zusammenarbeit – und das Swiss TPH startete in der Mangoky-Region ein grossangelegtes Schistosomiasis-Forschungs- und Kontrollprojekt, um zu ermitteln, ob sich Ambilhar zur Massenverabreichung an die Bevölkerung eignete.»


Und tat es das?

«Das Projekt zeitigte gemischte Resultate. Während Ambilhar bei der Blasenbilharziose (ausgelöst durch Schistosoma haematobium) gut wirkte, verursachte es bei der Darmbilharziose (ausgelöst durch Schistosoma mansoni) zum Teil schwere Nebenwirkungen. Deshalb musste man schliesslich von einer präventiven Massenverabreichung des Medikaments absehen. Dennoch hatte die Behandlung mit Ambilhar und die damit einhergehende Sensibilisierung im Allgemeinen zu einem Rückgang der Schistosomiasis-Fälle in der Region geführt.»


Wie wurde das Projekt von der lokalen Bevölkerung aufgenommen?

«Die meisten meiner Interviewpartner:innen aus der Region erinnern sich wohlwollend an das Projekt. Die Akzeptanz gegenüber der Intervention scheint gross gewesen zu sein, obwohl die Schistosomiasis als eigenständige Krankheit zuvor nicht bekannt war und deswegen nicht als grösste Gesundheitspriorität galt. Erst mit dem Bewässerungsprojekt sind die Fallzahlen in der Mango-ky-Region in die Höhe geschnellt und erst mit dem Projekt des Swiss TPH kam das Wissen um die Krankheit und ihre Übertragung.»


Wie ging es nach Ablauf des Schistosomiasis-Kontroll-Projektes weiter? Wurden die Bestrebungen von Madagaskar weitergeführt?

«Das Projekt wurde wie geplant 1971 an die madagassische Regierung übergeben, mit dem Ziel, dass es unter der Führung des Gesundheitsministeriums weitergeführt würde. 1972 putschte sich jedoch eine Militärregierung an die Macht. Es folgten 3 Jahre Militärdiktatur und

politische Instabilität. Die Schistosomiasis-Kontrolle wurde von der Geschichte ins Abseits gedrängt. Das «centre épidemiologique», welches man im Zuge des Projektes in der Bas-Mangoky-Region errichtete, war einem langsamen Verfall anheimgegeben, und die nach Ende des Projekts verbliebenen Expertinnen und Experten wanderten nach und nach alle ab. Über das Schistosomiasis-Vorkommen in den folgenden Jahrzehnten ist wenig bekannt, ausser dass die Krankheit im Delta so verbreitet war, dass ihr die äusserst populäre Band Mahaleo 1981

ein eigenes Lied widmete. Ich sprach kürzlich mit dem Laboranten eines privaten Spitals in der Region. Er zeigte mir in seinem Labor eine kaputte Zentrifuge für Blut- und Urinanalysen, mit der er bis vor einigen Jahren die Bilharziose hatte diagnostizieren können. Für lange Zeit

war das weitum der einzige Ort, an dem diese Diagnose möglich war. Heute müssen die Menschen in die etwa sechs Stunden entfernte Stadt Toliara fahren, wenn sie eine Bilharziose-Diagnose wollen. Das Bild dieser Zentrifuge hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Als Sinnbild für die Vernachlässigung, für eine Infrastruktur, die langsam zerfällt.»


Die Infrastruktur und das Wissen zerfallen, die Krankheit überdauert. Was sind die Lektionen aus der Geschichte, die vielleicht auch für politische Entscheidungsträger in der Globalen Gesundheit relevant sein könnten?

«Wichtig scheint mir, dass sich eine effiziente zukünftige Schistosomiasis-Kontrolle im Rahmen des Gesundheitssystems sowie des sozio-ökologischen Systems vollziehen

muss. Heute beschränkt man sich auf gelegentliche Massentherapien mit Praziquantel, einem über 40-jährigen Medikament. Doch Kinder, die an Unterernährung leiden, dürfen das Präparat nicht einnehmen. Neue Medikamente wären zweifellos wichtig, aber das Vertrauen auf Therapien verstellt nicht selten eine breite systemische Sicht auf Ressourcen- und Umweltfragen. Ich bin überzeugt: Ohne Zugang der betroffenen Menschen zu sau-

berem Wasser wird man die Krankheit wohl nie in den Griff bekommen.»


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