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Das Wohl im Wald

  • gregorio caruso
  • 23. Dez. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Die kühle Luft. Der aufregende Duft. Das Grün in tausend Varianten. Und die Stille. Wir tauchen mit der Ökologin Diana Soldo in den Wald ein. - Ori Schipper



Es riecht angenehm modrig. Der weiche Boden federt die Schritte ab. Ein Spinnennetz glitzert im Licht, das sich durch die Blätter immer neue Wege bahnt. «Ich will den Menschen den Wald näherbringen», sagt Diana Soldo. Die Biologin und doktorierte Umweltwissenschaftlerin war jahrzehntelang in der Pflanzen- und Klimaforschung tätig. Dann hat sie 2010 ihre Stelle gekündigt. Seither verbringt sie «viel Zeit im Wald, um mich mit der Natur zu verbinden». Ihren Lebensunterhalt verdient sie hauptsächlich mit Waldexkursionen, die sie für Jung und Alt anbietet.



Den Wald erleben


Wir haben uns an der Endstation der S-Bahnlinie 10 getroffen und sind gleich losgelaufen. Soldo hat einen riesigen Wissensschatz und könnte wohl stundenlang Interessantes über die wichtige ökologische Rolle des Waldes und die Lebensgemeinschaft der weit über 20 000 verschiedenen Arten im Gehölz erzählen. Aber es geht ihr bei ihren Exkursionen nicht nur um Wissensvermittlung: «Die Menschen sollen den Wald empfinden und erleben.»


Mit offenen Sinnen und ohne Leistungsdruck durch den Wald zu streifen, ist anregend und gleichzeitig erholsam. Darüber hinaus wirkt sich das sogenannte Waldbaden positiv auf die Gesundheit aus. Der Begriff stammt ursprünglich aus Japan, wo «Shinrin Yoku» (auf Deutsch übersetzt etwa das «Baden in der Atmosphäre des Waldes») seit den 1980er-Jahren als therapeutisches Konzept zur Stressbewältigung bekannt ist und breit angewandt wird.



Kraftort für Körper und Seele


Tatsächlich zeigen auch Studien aus Europa, dass bewusste Pausen im Wald den Pegel des Stresshormons Kortisol und den Blutdruck verringern. Und dass das Durchatmen im Grün das Immunsystem stärkt, die Stimmung hebt und den Schlaf verbessert. Allerdings, so Soldo, müsse man sich wirklich auf den Wald einlassen, wenn man in ihm neue Kraft für Körper und Seele schöpfen wolle.


«Viele Menschen nutzen den Wald als Naherholungsgebiet», sagt Soldo. Sie joggen oder ziehen ihre Mountainbike-Runden durch den Wald. Dabei sei das Grün oft vor allem Kulis-

se. «In unserer Gesellschaft grassiert die Pflanzenblindheit: Viele von uns nehmen nicht wahr, dass Pflanzen leben und atmen. Und dass sie soziale Wesen sind, die miteinander interagieren», meint Soldo. Sie wolle den Teilnehmenden «Respekt fürs Leben» vermitteln. «Wenn man die eigene Pflanzenblindheit überwindet, gewinnt man bereichernde neue Perspektiven.» Und zwar in philosophischer, psychologischer, gesundheitlicher und ja, auch spiritueller Hinsicht: «Das Leben ist ein Wunder», meint Soldo. Und: «Zu merken, wie wenig man darüber weiss, macht demütig.»



Mehr Naturwaldreservate


Unterdessen sind wir auf eine Sitzbank mit Aussicht gestossen – und nehmen Platz. «Hier war vor langer Zeit alles Wald», sagt Soldo und zeigt auf die Stadt unten am See. «Doch wir haben ihn auf vereinzelte Rückzugsorte auf den Hügelkuppen zurückgedrängt.» Heute bedeckt der Wald insgesamt rund ein Drittel der Fläche der Schweiz. Fast überall werde er forstwirtschaftlich genutzt. «Wie es unseren Wäldern geht, entscheiden die Förster», sagt Soldo.


Sie möchte, dass wir als Gesellschaft «mehr Verantwortung gegenüber unserem Wald» wahrnehmen. «Wir müssen ihm mehr Sorge tragen. Und nicht noch mehr zerstören», sagt

Soldo. Sie ist überzeugt, dass es «für das Ökosystem und dessen Biodiversität langfristig am besten ist, wenn wir nichts machen». Der Wald sei das Resultat einer seit 300 Millio-

nen Jahren dauernden Evolution. «Vom komplexen Beziehungsgeflecht zwischen den Lebewesen im Wald, das dabei entstanden ist, versteht die Wissenschaft noch sehr wenig.»


Soldo setzt sich dafür ein, dass in der Schweiz mehr Naturwaldreservate ausgeschieden werden, die – wie etwa der Nationalpark in Graubünden oder der Aletschwald im Wallis –

vollständig vor menschlichen Eingriffen geschützt sind.Denn in solchen Gebieten kann sich der Wald – im Laufe von Hunderten von Jahren – voll entfalten. Nur wenn man die Natur ungestört walten lasse, finde der Wald zu seinem natürlichen Gleichgewicht, meint Soldo.



Wildkräuter sind Nahrung und Medizin


Wir stehen auf und schlendern weiter. An einer weiblichen Eibe hält Soldo an. Sie nimmt einen rotumhüllten Samen in den Mund. Und fordert mich auf, es ihr gleichzutun. «Der rote Samenmantel ist süss», sagt die Waldexpertin. Doch den Samen spuckt sie wieder aus. Er enthält – wie die Rinde und die Nadeln des Baums – stark toxische Alkaloide. Die nach dieser Gattung benannten Eibengifte, die sogenannten Taxane, werden als Chemotherapeutika in der Krebsbehandlung eingesetzt.


Bei ihren Exkursionen versuche sie, auf die Fragen und Bedürfnisse der Teilnehmenden einzugehen. Immer wieder stehe auch Kulinarisches im Vordergrund. «Etwa neun von zehn Pflanzen sind essbar», weiss Soldo. Im Frühling müsse sie nicht in den Supermarkt, denn dann sei der Wald ihr Garten. Wildkräuter wie Löwenzahn, Bärlauch, Brennnesseln, Labkraut und Giersch sind «Nahrung und Medizin zugleich», sagt Soldo. «Sie enthalten mehr Nährstoffe und Mineralien als gezüchtete Pflanzen – und schmecken besser.»


Sie sei ein bisschen waldsüchtig geworden – und komme mit deutlich weniger Geld aus als früher, sagt Soldo. So lebt sie die Enthaltsamkeit vor, die unsere Überflussgesellschaft

entwickeln und kultivieren muss, um zu einem nachhaltigeren Verhalten zu gelangen. Soldo will die Teilnehmenden an ihren Exkursionen zu «einem gesunden, respektvollen Um-

gang mit der Natur» ermuntern. Denn: «Unsere Beziehung zur Natur entscheidet über unsere Zukunft», sagt Soldo.



Zur Stille kommen


Wenn Soldo die Blätter einer jungen Buche berührt oder mitihren Fingern über Moos und Flechten gleitet, strahlt sie etwas Friedliches und Tröstliches aus. Mir fällt das erst auf,

als wir uns zum Schluss auf den Boden setzen – und zur Stille kommen. Im Lauschen wohnt ein wunderbarer Zauber inne, dem mit Wörtern nicht beizukommen ist. Auf ihrer

Webseite hält Soldo fest: «Die Stille ist eine grosse Offenbarung.»

Wie recht sie hat.









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