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Mit Netflix-Modell aus der Antibiotikakrise

Jährlich sterben über eine Million Menschen direkt an den Folgen einer Infektion, die nicht mehr mit Antibiotika behandelt werden kann. Besonders betroffen von multiresistenten Bakterien sind Menschen in Ländern mit tiefen Einkommen. Trotz dieser globalen Gesundheitskrise wird wenig in die Entwicklung neuer Antibiotika investiert. Bis heute fehlen die wirtschaftlichen Anreize dafür. Kann eine der grössten Errungenschaften der modernen Medizin noch gerettet werden?

Samuel Schlaefli



Marc Gitzinger hat sich schon immer für angewandte Forschung interessiert. Während seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich hat er zu Tuberkulose geforscht. Viel «angewandter» geht es nicht: Jährlich erkranken laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zehn Millionen Menschen an Tuberkulose (TB). Obschon verhinderbar und kurierbar, sterben jährlich 1,5 Millionen Menschen daran. Die WHO nennt TB «den Top-Killer unter den Infektionskrankheiten».

Immer öfter ist das Bakterium, das beim Niesen oder Hus-ten übertragen wird, resistent gegen gängige Antibiotika. Laut WHO treten jährlich fast eine halbe Million Fälle auf,

bei welchen «Rifampicin», das effektivste Erstmedikament gegen TB, aufgrund von Resistenzen wirkungslos ist.


Nach Abschluss seiner Doktorarbeit gründete Marc Gitzinger 2010 das Unternehmen «Bioversys», das seit Beginn ausschliesslich auf die Entwicklung von «antimikrobiellen Therapien» setzt, vor allem in Form von neuen Antibiotika. Ein mutiger Schritt, denn während Gitzinger sein Unternehmen mit heute 21 Mitarbeitenden in Basel und Lille aufbaute, sind fast alle grossen Pharmaunternehmen aus der Entwicklung neuer Antibiotika ausgestiegen. Die britische Astra Zeneca stieg 2016 aus, Novartis beendete 2018 seine Antibiotikaforschung und entliess 140 Mitarbeitende in den USA. Die französische Sanofi folgte im gleichen Jahr. Und selbst die amerikanische «Eli Lilly and Company», welche jahrzehntelang Penicillin und erfolgreiche Folgeprodukte produziert hatte, verliess das Feld. 2020 investierten weltweit lediglich noch vier grosse Pharmaunternehmen in die Antibiotikaforschung. Damit einher ging ein grosser «Brain Drain». Gut ausgebildete Medizinerinnen und Chemiker mit viel Erfahrung in der Antibiotikaforschung wechselten in die Onkologie, wo deutlich höhere Gehälter und mehr Ansehen locken als in der darbenden Antibiotikaentwicklung. Eine Reihe von Start-ups und kleinen Biotech-Unternehmen gaben trotzdem nicht auf. «Wir waren trotz der Krise in der Branche stets felsenfest überzeugt: Die medizinische Notwendigkeit unserer Produkte ist dermassen hoch, dass irgendwann auch die ökonomische Seite wieder stimmen wird», sagt Gitzinger.


Neue Antibiotika aus der Basler Peripherie

Der Hauptsitz von Bioversys liegt nicht weit vom Frachthafen an der Basler Stadtperipherie. Hier haben sich eine Reihe von kleinen und mittelgrossen Biotech-Unternehmen nie-

dergelassen sowie die Lonza, für die gerade ein zusätzliches Hochhaus gebaut wird. Im zweiten und dritten Stockwerk eines langgezogenen Multifunktionsgebäudes hat sich

Bioversys Büros und Labore gemietet. Man teilt sich Pausenräume, Laborkühlschränke und Sitzungszimmer mit anderen hier ansässigen KMU. In den gekühlten Biobanken von Bio-

versys lagern klinische Proben mit multiresistenten Keimen aus dem Unispital Basel, mit dem man eng zusammenarbeitet. An diesen Proben testen die Mitarbeitenden neu entwickelte Wirkstoffe. Die Forschung mit Tuberkulose, die Labors der Sicherheitsstufe 3 erfordert, findet auf dem Campus des Institut Pasteur in Lille statt, wo fünf Mitarbeitende fest vor Ort sind.


Bioversys gilt mittlerweile auch international als «Top Shot» in der Antibiotikaentwicklung. Aktuell hat es vier Antibiotika in der Pipeline. Gemeinsam mit GlaxoSmithKline entwickelt es einen Wirkstoff gegen multiresistente Tuberku lose (BVL-GSK098, Phase 2). In einem Antivirulenz-Projekt wird ein komplett neuer Ansatz getestet. Durch ein neuartiges Molekül soll die Toxinproduktion des Bakteriums Staphylococcus aureus unterbunden werden (BV 200, präklinisch). Auch arbeitet Bioversys an einer neuen Wirkstoffklasse (BV 300, präklinisch), die das Potenzial für ein neues Breitbandantibiotikum hat. Ein solches wurde zum letzten Mal vor 40 Jahren eingeführt. Weiter wird bei Bioversys an einem Wirkstoff geforscht, der sehr spezifisch gegen das Gram-negative Acinetobacter baumannii (A. baumannii) wirkt (BV 100, Phase 2). Im Gegensatz zu den Gram-positiven Bakterien zeichnen sich die Gram-negativen durch eine äusserst robuste Zellmembran aus, welche sie vor Antibiotika schützt. A. baumannii ist ein Bodenbakterium, das im Irak vorkommt. Während des Irakkriegs wurde es durch verletzte amerikanische Soldaten in amerikanische Kliniken und von dort aus in die gesamte Welt getragen. Das Bakterium ist von Natur aus bereits extrem resistent. Selbst Carbapeneme, eine Weiterentwicklung des Penicillins, und oft die erste Wahl, wenn in der Klinik Resistenzen auftreten, sind wirkungslos. Dann greifen Fachleute zu Colistinen, die

jedoch zu schweren Nierenschäden führen können. Hat A. baumannii erst einmal die Lunge befallen, so liegt die Sterblichkeitsrate bei 50 %; selbst bei gesunden und jungen Men-

schen. Meist ist eine Blutvergiftung die Todesursache. A. baumannii gehört zu den ESKAPE-Pathogenen, einer Klasse von multiresistenten Bakterien, die mittlerweile oft in Kliniken anzutreffen sind. Auf der Prioritätenliste der WHO stehen sie ganz zuoberst.


Die meisten Antibiotika, die bei Bioversys entwickelt werden – sollten sie in einigen Jahren tatsächlich auf den Markt kommen – , werden niemals in einer Apotheke käuflich sein.

Dafür sind sie viel zu wertvoll. Nur in spezialisierten Kliniken, wo Patienten in Todesgefahr behandelt werden und bei welchen kein gängiges Antibiotikum mehr gegen deren multiresistenten Keime wirkt, würden die Wirkstoffe eingesetzt. Man spricht von Reserve- oder «Last resort»-Antibiotika.


Der Bioversys CEO empfängt mich Mitte August in einem Sitzungszimmer am Basler Hauptsitz. Er entschuldigt sich dafür, dass er kurze Hosen trägt. «Bei dieser Hitze habe ich irgendwann aufgegeben», sagt er und lacht. Danach kommt er schnell zur Sache, wobei es ihm leichtfällt, das Gegenüber davon zu überzeugen, dass hier an Lösungen für eine der grössten Gefahren der Menschheit gearbeitet wird. «Die zunehmenden Antibiotikaresistenzen gefährden die medizinischen Fortschritte der letzten 100 Jahre», sagt Gitzinger. «Wirkungsvolle Antibiotika sind die Basis für routi-nemässige medizinische Eingriffe, wie Hüftgelenkoperationen oder Kaiserschnitte.» Bereits heute würden Menschen zwar erfolgreich gegen Leukämie behandelt, danach aber an einer einfachen Lungenentzündung sterben, weil die Antibiotika nicht mehr anschlagen. «In Italien wird mittlerweile alle paar Wochen ein lebensgefährlicher Aus-

bruch von Antibiotikaresistenzen in Spitälern gemeldet. Und in Griechenland sind 98 % der Acinetobacter-Bakterien in Kliniken gegen Carbapeneme resistent. Das heisst, sie haben bei einer Infektion etwa eine 50 : 50 Chance zu überleben.»


Die «stille» Pandemie wird immer lauter

Gitzingers Alarmismus wird von den meisten Expertinnen und Experten geteilt. Die WHO spricht im Zusammenhang mit multiresistenten Erregern seit 2019 von einer «stillen Pandemie». Im Frühjahr 2022 veröffentlichte eine Gruppe von Forschenden in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» die umfassendste je veröffentlichte Analyse zu Antibiotikaresistenzen. 471 Millionen Krankheitsfälle in 204 Ländern wurden dafür ausgewertet. Das Ergebnis: 2019 starben 1,27 Millionen Menschen direkt an

multiresistenten Keimen und bei weiteren 4,95 Millionen haben die Resistenzen zum Tod beigetragen, ohne dass sie die Hauptursache waren. Die WHO zählt multiresistente

Keime heute zu den zehn grössten Gefahren für die Gesundheit der Menschheit. 2021 sagte die Leiterin der Antibiotikaabteilung der WHO, man solle aufhören von einer «stillen Pandemie» zu sprechen. Diese sei längst nicht mehr «still».


Dass es zu dieser globalen Gesundheitskrise kam, vor welcher Mikrobiologen, Infektiologinnen sowie UN- und WHO-Experten seit Jahren warnen, ist nicht die Schuld der Bakterien, sondern menschlicher Leichtsinnigkeit. Die Bakterien tun lediglich, was sie seit Jahrtausenden tun: Sie mutieren, um sich einer neuen Umgebung anzupassen und ihr Überleben zu sichern. Das ist auch gut so, denn wir brauchen sie zum Überleben. Die einzelligen, prokaryotischen

Organismen besiedeln praktisch die gesamte Umwelt, darunter auch die Haut und den Magen von Tieren und Menschen. Doch einige von ihnen, zum Beispiel Staphylococcus aureus, können im Fall einer offenen Wunde Infektionen verursachen. Sobald ein neues Antibiotikum gegen sie eingesetzt wird, beginnt der Mutationsprozess. Zum Beispiel bilden die Bakterien die Andockstelle an der Zellwand zurück, über welche Antibiotika bislang in die Bakterien eindrangen. Oder sie entwickeln ein Protein, welches das Antibiotikum bindet und unschädlich macht. Treten solche multiresistenten Keime auf und wird ein Patient weiter hin mit Antibiotika behandelt, so werden die nicht resistenten Bakterien abgetötet, während die resistenten zu florieren beginnen. Falsch eingesetzte Antibiotika tragen somit

dazu bei, dass sich Resistenzen weiter ausbreiten können.


In Spitälern gelangen sie, zum Beispiel über unsauber gewaschene Hände, während Operationen von einer Person auf die andere (siehe auch Interview auf Seite 68 bis 69) –

mit teils tödlichen Folgen. Wir sind uns heute oft nicht mehr bewusst, welch unglaublicher medizinischer Durchbruch die Entdeckung des Penicillins von 1928 durch den schottischen Arzt Alexander Fleming war. Seit das Antibiotikum in den 40er-Jahren weltweit verfügbar wurde, ging die Todesrate aufgrund von Infektionskrankheiten um 70 % zurück. Doch bereits Fleming rief 1945 in seiner Nobelpreisrede dazu auf, verantwortungsvoll mit dieser Errungenschaft umzugehen. Ihm war bewusst, dass die Resistenzen von Bakterien zunehmen

würden, je öfter Penicillin zum Einsatz käme. Laut dem «State of the World’s Antibiotics Report» von 2021 stieg der Einsatz von Antibiotika beim Menschen allein zwischen

2000 und 2015 um 65 %. Ohne wirkungsvolle Gegenmassnahmen werde der gesamt-

hafte Antibiotikakonsum (bei Menschen und Tieren) zwischen 2015 und 2030 um 200 % ansteigen, prognostizieren die Autoren. Eine Lancet-Studie mit Patientendaten aus

Europa für das Jahr 2000 zeigt, dass dort, wo am meisten Penicillin bei der ambulanten Behandlung eingesetzt wird, Resistenzen von Pneumokokken, die Nasennebenhöhlen-,

Mittelohr- oder Lungenentzündungen hervorrufen können, am häufigsten vorkommen. Spitzenreiter sind Frankreich und Spanien. Oft werden Antibiotika auch in Fällen einge-

setzt, wo sie gar keinen Nutzen bringen. Eine Studie aus den USA von 2013 kam zum Ergebnis, dass von 40 Millionen Patienten und Patientinnen, die aufgrund von Lungenproble-

men mit Antibiotika behandelt wurden, mehr als die Hälfte (27 Millionen) keine Antibiotika benötigt hätten. Durch den grassierenden Überkonsum von Antibiotika wird diese medizinische Wunderwaffe immer stumpfer.


Billig, in Massen produziert und frei zugänglich

«Der zu häufige und falsche Einsatz von Antibiotika hat oft mit fehlenden Diagnostika zu tun», sagt Esther Künzli, stellvertretende Chefärztin des Zentrums für Tropen- und

Reisemedizin am Swiss TPH. Ärzte und Ärztinnen wüssten oft nicht einmal, ob es sich um einen viralen oder bakteriellen Infekt handelt. Das ist entscheidend, da Antibiotika nur gegen Bakterien wirken. «Ohne Diagnostika ist die Behandlung mit Antibiotika ein Blindflug.» Das sei in ärmeren Ländern mit schlecht ausgebauten Gesundheitssystemen besonders augenfällig. «Irgendein Antibiotikum findet man praktisch überall auf der Welt; oft sind es sogar die einzig verfügbaren Medikamente», sagt Künzli. «Sie sind billig, frei käuflich und werden zum Beispiel auch in Asien in grossen Mengen produziert». Der Einsatz von An-

tibiotika, die von der WHO als kritisch für die menschliche Gesundheit eingestuft werden, stieg in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen zwischen 2000 und 2015 um 165 % – und damit noch stärker als im globalen Durchschnitt (91 %).


Die schockierende Lancet-Studie vom Frühjahr 2022 zeigte nicht nur das Ausmass der Krise, sondern auch die ungleiche geografische Betroffenheit. Die meisten Todesfälle verursachten Antibiotikaresistenzen in Subsahara-Afrika und in Südasien, mit 24, respektive 22 Todesfällen pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. In Ländern mit hohen Einkommen lag dieser Wert lediglich bei 13. Die Gründe dafür sind vielfältig: Unter anderem begünstigt das feuchte und warme Klima entlang des tropischen Gürtels die Mutation und Bildung von Resistenzen. Aber auch sozioökonomische Faktoren befeuern die Krise. 2018 haben Forschende Weltbank-Daten aus 103 Staaten mit zwei Indizes für Antibiotikaresistenzen verglichen. Ihre Analyse

zeigte, dass diese dort öfter auftreten, wo das BIP geringer, das Ausbildungsniveau tiefer, die Infrastruktur schlechter ist und weniger in die öffentliche Gesundheit investiert wird. Auch Korruption korreliert positiv mit dem Auftreten von Resistenzen. Die Schlussfolgerung der Autoren: Eine bessere Sanitär- und Abwasserinfrastruktur, vereinfachter Zugang zu sauberem Trinkwasser, stringentere Regulierungen im Gesundheitssystem sowie mehr Investitionen der öffentlichen Hand in das Gesundheitssystem – all diese Massnahmen tragen zur Eindämmung der Krise bei. «Antibiotikaresistenzen sind vor allem ein Armutsproblem», sagt Künzli. «Jede Verbesserung der sanitären Bedingungen und Gesundheitssysteme ist ein direkter Beitrag gegen zusätzliche Resistenzen.» Entscheidend sei zudem eine hohe Impfrate. Denn Virus-

infekte, wie im Fall von Covid-19, aber auch Masern oder eine Grippe, könnten unter bestimmten Bedingungen bakterielle Superinfekte hervorrufen. «Heute wissen wir, dass nach einer durchgemachten Maserninfektion das Risiko für einen bakteriellen Infekt erhöht ist.» Und bestimmte Impfungen, zum Beispiel gegen Haemophilus influenzae, Meningokokken oder Pneumokokken, wirken direkt gegen Bakterien. Der Zusammenhang zwischen Impfrate und Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen werde heute noch zu wenig thematisiert, sagt Künzli.

Künzli untersucht in ihrer Arbeit als Medizinerin am Swiss TPH regelmässig Reiserückkehrende auf Antibiotikaresistenzen. 2015 hat sie mit Laos-Reisenden eine Studie durchgeführt, im Rahmen welcher diese freiwillig während 22 Tagen Stuhlproben abgaben. Bei allen Teilnehmenden konnten während der Studienzeit Gram-negative Bakterien nachgewiesen werden, die ESBL produzieren, das sind Enzyme, durch welche die Wirkung gewisser Antibiotika unwirksam gemacht wird. Insgesamt wurden 83 multiresistente Keime identifiziert, darunter 53 Escherichia coli, 10 Klebsiella spp. und 20 weitere Gram-negative Bakterien, die ESBL produzieren. Die Studie zeigte, dass Reisende antibiotikaresistenten Keimen wesentlich stärker ausgesetzt sind als bisher gedacht. «Wie viele Rückkehrer tatsächlich eine Infektion entwickeln, wissen wir hingegen nicht.» Eine Studie aus Holland, mit Reisenden aus vielen unterschiedlichen Destinationen, hat gezeigt, dass besonders

Reisende aus Süd- und Ostasien multiresistente Keime in die Heimat einschleppen.

Ein Grund dafür ist, dass die Antibiotikaproduktion in den vergangenen Jahren oftmals in Schwellen- und Entwicklungsländer ausgelagert wurde; insbesondere nach Indien –

heute weltweiter Spitzenreiter beim Antibiotikakonsum. Aus Fabriken gelangen Antibiotika durch Abwasser und Abfälle in Flüsse und auf Felder und treiben dort die Bildung von Resistenzen weiter voran. Hinzu kommt die wachsende globale Nachfrage nach tierischen Eiweissen. Da Antibiotika dermassen günstig sind, werden sie in der Schweine-, Rinder- und Hühnerzucht oft als Wachstumsbeschleuniger eingesetzt. Viele Bauern setzten sie auch prophylaktisch für die Sicherung der Tiergesundheit ein, von der ihre Existenz abhängt. Von 41 durch die US-amerikanische «Food and Drug Administration» (FDA) zugelassenen Antibioti-

ka für die Nahrungsmittelproduktion sind 31 auch für die menschliche Gesundheit relevant. Über engen Kontakt mit den Tieren, Fäkalien oder ungenügend gekochtes Fleisch können Resistenzen auf den Menschen übertragen werden.


Studien auf Bauernhöfen haben gezeigt, dass Bauern und ihre Tiere oftmals die gleichen multiresistenten Keime tragen. Viele Fragen der Resistenzübertragung von Tieren auf

Menschen sind noch nicht abschliessend geklärt. Für Künzli steht aber schon heute fest: «Für die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen brauchen wir einen One Health-Ansatz. Die Gesundheiten von Tier, Mensch und Umwelt müssen viel stärker in Abhängigkeit voneinander betrachtet werden.» .


Neue Antibiotika-Pipeline aufbauen

Die Bedrohung der Weltgesundheit durch multiresistente Keime ist nicht neu: Vor etwas mehr als 20 Jahren traten erste Berichte über den Methycilin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA) in US-amerikanischen Spitälern auf. Dieses Bakterium widerstand erstmals einer ganzen Klasse von Antibiotika, den Beta-Lactam-Antibiotika. Experten und Expertinnen waren alarmiert. 2015 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO einen «Global Action

Plan», mit sozialen, ökonomischen und medizinischen Leitlinien, anhand welchen Staaten gegen die weitere Verbreitung von multiresistenten Keimen vorgehen sollten. Ein Jahr später erschien der O’Neill-Report. Der ehemalige Goldman Sachs-Makroökonom Jim O’Neill hatte im Auftrag des damaligen britischen Premierministers David Cameron während 19 Monaten alles verfügbare Wissen zu den zunehmenden Resistenzen zusammengetragen und daraus

Lösungsansätze entwickelt. O’Neill schätzte, dass bis 2050 jährlich zehn Millionen Menschen aufgrund multiresistenter Keime sterben könnten, mehr als heute an Krebs. Sowohl

der WHO- als auch der O’Neill-Bericht forderten ein besseres «Stewardship», also einen reduzierten und bewussteren Einsatz von Antibiotika, und Massnahmen zur Reduktion

von Infektionen, zum Beispiel durch besseren Zugang zu sauberem Wasser. Gleichzeitig riefen die Autoren und Autorinnen nach mehr Forschung und Entwicklung im Antibiotikasektor.

Ein Blick auf die Pipeline der Antibiotika-Neuentwicklungen zeigt das Problem: Im Dezember 2020 befanden sich laut Pew Trust weltweit 43 neue Antibiotika in Entwicklung,

15 waren in klinischen Studien der Phase 1, 13 in Phase 2 und 13 in Phase 3. Zwei betrafen neue Verabreichungsformen. 19 haben das Potenzial, Gram-negative ESKAPE-Pathogene

zu behandeln, welche in der Klinik am meisten Probleme verursachen. Und nur ein Viertel der aktuellen Entwicklungen betrifft eine komplett neue Medikamentenklasse, die resistente Keime über neue Wege bekämpft.


Zum Vergleich: Mehr als 5 000 Krebsmedikamente befinden sich aktuell in der Entwicklung. Im O’Neill-Bericht ist festgehalten: Weltweit werden rund 40 Milliarden US-Dollar jährlich mit Antibiotika umgesetzt. Nur 4,7 Milliarden fallen auf neuere, patentierte Antibiotika – etwa so viel, wie ein einziges Top-Krebsmedikament umsetzt. Alle anderen Umsätze betref-fen ältere Generika. Mit neu entwickelten Antibiotika wird vergleichsweise sehr wenig Geld verdient.

Laut einer Schätzung von 2017 kostet die Entwicklung eines neuen Antibiotikums, rechnet man die Misserfolge mit ein, rund 1,5 Milliarden US-Dollar. Die durchschnittlichen

jährlichen Einnahmen werden auf lediglich 46 Millionen pro Jahr geschätzt. Investorinnen und Investoren, die rechnen können, lassen die Finger von einem solchen Geschäft.

Das ist auch der Grund, weshalb so viele Pharmafirmen aus der Antibiotikaforschung ausgestiegen sind – damit lässt sich schlicht kein Geld verdienen. Neue Antibiotika sind im Schnitt dreimal weniger profitabel als Krebsmedikamente und elfmal weniger als Medikamente gegen Muskelerkrankungen. «Für die Entwicklung eines neuen Antibiotikums dauert es im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre», erklärt Marc Gitzinger von Bioversys. In seinem eigenen Unternehmen sind nach 12 Jahren Forschung und Entwicklung erst zwei Wirkstoffe in klinischen Studien der Phase 2. Es dauert noch Jahre, bis diese für den Markt zugelassen werden könnten. «Während dieser Zeit investiert man kontinuierlich Geld, ohne einen einzigen Franken zu verdienen.» Was die Entwicklung dermassen teuer mache, seien die klinischen Studien, die für die Zulassung eines neuen Antibiotikums notwendig sind. Die Phase 2-Studien bei Bioversys zum Beispiel werden mit 50 Patienten durchgeführt. Jeder kostet das Unternehmen zwischen 100 000 bis 150 000 Franken. In Phase 3 werden es noch mehr sein. Bis zur Zulassung investiert ein Unternehmen somit mindestens 150 Millionen

US-Dollar. Und am Ende kommt lediglich einer von zehn Wirkstoffkandidaten tatsächlich auf den Markt; die anderen schaffen es nicht durch die klinischen Studien.


Doch selbst bei einer erfolgreichen Markteinführung eines neuen Antibiotikums, das in Spitälern Leben rettet, ist der – ökonomische – Erfolg noch längst nicht garantiert. Denn

wenn es wirkt, dann ist der Patient nach zwei Wochen wieder gesund. Wenn nicht, dann ist er tot. Die Therapiezeiten sind somit äusserst kurz. Ganz anders als bei chronischen

Krankheiten, wie Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen, kommt das Medikament nur kurz zum Einsatz, wird also selten verkauft. Genauso soll es besonders mit neuen, innovativen Antibiotika, die gegen die tödlichsten ESKAPE-Erreger wirken, auch sein. Sie sollen nur im äussersten Notfall eingesetzt werden. «Wir können von neuen Antibiotika keine grossen Volumen mehr produzieren, sondern müssen diese gezielt einsetzen für Patienten, die sie wirklich brauchen», sagt Gitzinger. Denn sonst gibt man den Bakterien wiederum eine Möglichkeit sich anzupassen. «Die sehr kurze Behandlungsdauer, der sehr moderate, um nicht

zu sagen viel zu tiefe Preis, und zusätzlich die Bestrebungen für einen möglichst seltenen Einsatz. All das führt unter dem Strich zu einem ökonomischen Marktversagen.»


Forderung nach mehr Engagement der öffentlichen Hand

Folglich war eine der wichtigsten Erkenntnisse des O’Neill-Reports, dass der Markt allein das Problem der fehlenden Investitionen in die Antibiotikaentwicklung nicht beheben wird. Die Autorinnen und Autoren forderten, dass sich Staaten, internationale Organisationen und Stiftungen stärker engagieren, und schlugen vor, einen globalen Fonds zu schaffen, über den zwei Milliarden US-Dollar über fünf Jahre in die Antibiotikaforschung investiert werden. 2016 wurde mit Unterstützung der USA, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und mehreren global agierenden Stiftungen die Initiative «CARB-X» gegründet. 500 Millionen US-Dollar stellen sie für frühe klinische Phasen an aussichtsreichen Antibiotika und Diagnostika zur Verfügung. Insgesamt 44 Projekte werden derzeit unterstützt, darunter auch Bioversys «BV300», der Wirkstoff mit dem Potenzial, zum neuen Breitband-Antibiotikum zu werden.

Ebenfalls 2016 wurde die «Global Antibiotics Research and Development Partnership» (GARDP) mit Sitz in Genf gegründet. Sie wird von internationalen Stiftungen, Médecins Sans Frontières und mehreren Staaten finanziert, darunter auch die Schweiz. Ziel der Initiative ist es, dass bis 2025 fünf neue Antibiotika verfügbar sind. Gleichzeitig setzt GARDP einen Schwerpunkt auf deren globale Verfügbarkeit. Denn nur zehn der 25 neuen Antibiotika, die zwischen 1999 und 2014 auf den Markt kamen, wurden in mehr als zehn Ländern registriert. Das Problem ist immer dasselbe: Ohne Aussicht auf genügend hohe Profite entscheiden sich Pharmaunternehmen meist dagegen, neue Wirkstoffe in zusätzlichen Ländern zu registrieren.

Nach Jahren des Desinvestments und der Abstossung von Antibiotikasparten sind mittlerweile auch die Pharmakon-zerne selbst wieder mit an Bord: Im April 2021 lancierte die «International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations» (IFPMA) gemeinsam mit der WHO den «AMR Action Fund». Einige der grössten Pharmafirmen,

darunter Roche und Novartis, die Europäische Investmentbank, der Wellcome Trust und weitere philanthropische Stif-tungen werden in den kommenden Jahren eine Milliarde

US-Dollar in vielversprechende Biotech-Unternehmen investieren. «Wir investieren in Firmen, die uns vielversprechend scheinen, und erhalten dafür Aktien und teils auch Sitze im Vorstand», sagt Martin Heidecker, Chefinvestor des Fonds. Die Pharmabranche sei sich der enormen Herausforderungen durch multiresistente Keime längst bewusst und sei bereit, Verantwortung zu tragen, sagt er. Andere sprechen von einer Art Abbitte für die Versäumnisse in der Vergangenheit. Zum neuerlichen Interesse an der Antibiotikaentwicklung dürfte auch die Erkenntnis beigetragen haben, dass durch multiresistente Bakterien zunehmend auch Erfolge von neu entwickelten Therapien gefährdet sind – und damit am Ende auch das Geschäftsmodell der Pharmakonzerne.


Seit der Lancierung des «AMR Action Fund» sind 130 Anfragen von Biotech-Unternehmen bei Heidecker eingegangen. «Wir haben uns seit dem Start jeden zweiten Tag eine Präsentation angeschaut.» Die Wahrscheinlichkeit, dass in ein Unternehmen investiert wird, liegt bei etwa 1:50. Aktuell

unterstützt der Fonds zwei US-amerikanische Biotech-Un-ternehmen. «Venatorx», das eine optimierte Form von bestehenden Wirkstoffen durch sämtliche klinischen Phasen gebracht hat und das neue Antibiotikum aktuell für die Zulassung registriert. Und «Adaptive Phage Therapeutics», das mithilfe des Fonds einen Wirkmechanismus in der ersten klinischen Phase testen wird. Das Unternehmen setzt auf ei-ne der aktuell aussichtsreichsten nicht-traditionellen Wirkmechanismen: Phagen, also «gutmütige» Viren, welche Bakterien unschädlich machen. Das Unternehmen baut derzeiteine Virensammlung auf, anhand welcher für Patienten mit chronischen Antibiotikaresistenzen genau diejenigen Phagen isoliert werden können, die gegen den entsprechenden Erreger helfen. «Wir wollen altbekannte Wirkmechanismen verbessern, aber auch komplett neue, innovative Ideen voranbringen», sagt Heidecker. Er ist überzeugt, dass beide Unternehmen ohne Unterstützung des Fonds Schwierigkeiten hätten, Gelder für die Weiterentwicklung ihrer Projekte zu finden. Ziel des Fonds sei es, noch in diesem Jahrzehnt zwei bis vier neue Antibiotika gegen multiresistente

Bakterien auf den Markt zu bringen.


Mehr bezahlen für weniger Behandlungen

Aufgeschreckt durch den O’Neill-Report und den WHO Action Plan, kamen in den vergangenen Jahren auch auf politischer Ebene die Hebel wieder in Gang. Staaten sind die grössten Abnehmer von Antibiotika und haben dadurch weitreichende Möglichkeiten für die Preisgestaltung. Viele haben mittlerweile verstanden, dass es neue Vergütungsmodelle braucht, um der fortschreitenden Krise etwas entgegenzusetzen. Grossbritannien testet derzeit einen Ansatz, der unter der Bezeichnung «Netflix-Modell» populär wurde. Anstelle Antibiotika pro Dosis zu vergüten – was Anreize für den häufigen Einsatz schafft –, soll lediglich für den Zugang zu neuen Antibiotika, ähnlich wie bei Netflix zu neuen Filmen, bezahlt werden. Der Preis und Gewinn wird damit vom Verkaufsvolumen entkoppelt. Im Juni 2020 hat die britische Regierung verkündet, dass sie mit zwei Pharmakonzernen entsprechende Verträge für die Entwicklung neuer Antibiotika abschliessen werde. In den USA wird der «Pasteur Act», ein Gesetz für die Schaffung eines nationalen Fonds für die verkaufsunabhängige Vergütung, derzeit im Parlament diskutiert. Je nach öffentlich-medizinischem Nutzen würden dann Pharmaunternehmen 750 Millionen bis 3 Milliarden US-Dollar für erfolgreich zugelassene Antibiotika über einen Zeitraum von zehn Jahren erhalten – unabhängig von der tatsächlichen Verkaufsmenge. Schweden, ein Land, das historisch eher tiefe Zahlen an Antibiotikaresistenzen aufwies, bezahlt heute mehreren Generikaherstellern unabhängig des tatsächlichen Verbrauchs einen Mindestertrag. Dies, nachdem die Nachfrage zu Beginn der Coronapandemie stark anstieg und die Regierung merkte, dass sie keinen Zugang mehr zu lebensrettenden Antibiotika hat.


Laut Marc Gitzinger wäre ein garantierter Umsatz von drei bis vier Milliarden US-Dollar nötig, damit sich die Antibiotikaentwicklung für Unternehmen wieder lohnen würde. Das

hätten mittlerweile mehrere Studien gezeigt. «Das würde bedeuten, dass Unternehmen, die erfolgreich ein neues An-tibiotikum auf den Markt bringen, während zehn Jahren eine Prämie von 350 Millionen erhalten – komplett unabhängig von den Verkäufen.» Was sich zu Beginn nach sehr viel Geld anhöre, würde in den Gesundheitsbudgets der Staaten mit drei bis fünf Franken pro Einwohnerin pro Jahr zu Buche schlagen, rechnet Gitzinger vor. «Ich denke, das ist angemessen dafür, dass wir in den nächsten Jahrzehnten wieder wirkungsvolle Antibiotika zur Verfügung haben.» Hinzu kommt, dass neue Antibiotika potenziell auch Kosten verhin-

dern können, die durch Komplikationen, lange Aufenthalte in Notfallstationen, falsche Behandlung und Langzeitschäden durch Infektionen entstehen. Die Weltbank rechnet bis

2030 mit Einbussen der Weltwirtschaft aufgrund von Problemen mit multiresistenten Keimen von 3,4 Billionen US-Dollar.


Wer für die «Abogebühren» bezahlen soll, ist für Gitzinger ebenfalls klar: «Die Verantwortung liegt in erster Linie bei den G20 sowie anderen reichen Staaten, die sich das leisten können. Darunter auch die Schweiz.» Von der Schweizer Regierung ist Gitzinger bislang jedoch enttäuscht. Zwar gebe es durchaus Parlamentarier und Parlamentarierinnen, die gut informiert seien und Motionen für mehr Investitionen in die Antibiotikaforschung eingereicht hätten. Doch der Bundesrat habe bislang alle abgeschmettert. Im Vergleich zu anderen Staaten befinde sich die hiesige Politik derzeit noch im Tiefschlaf. «Wir haben in der Schweiz, und insbesondere in Basel, wahrscheinlich die höchste Dichte an Antibiotikaforschung weltweit», sagt Gitzinger. «Umso weniger verstehe ich, weshalb nicht auch die Schweizer Politik in diesem Sektor eine globale Vorreiterrolle einnimmt.»


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