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Westsahara-Konflikt: Im Wartesaal der Freiheit

Eine Gruppe Männer sitzt im heissen Sand, im Windschatten eines Backsteingebäudes. Sie spielen ein traditionelles Spiel, eine Art Mancala mit Stöckchen und Steinen an einem Ort, an dem die Zeit keine Bedeutung zu haben scheint: das Flüchtlingscamp der Sahrauis in Algerien.


165 000 Sahrauis leben in vier Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf. Was als improvisierte Zeltstadt vor 40 Jahren ihren Anfang nahm, wurde für viele ehemalige Nomaden aus der Westsahara zum Dauerzustand.


1976 zog sich Spanien nach 90 Jahren Kolonialherrschaft aus der Westsahara zurück. Ein Jahr später annektierte Marokko das an Bodenschätzen und Fischbeständen reiche Gebiet. Und vertrieb einen Grossteil der einheimischen Bevölkerung ins Exil nach Algerien. Ein 3000 km langer und von Landminen gesäumter Grenzwall spaltet das Land. Er trennt Familien und die Erinnerung in ein «damals» und ein «heute». Seither sind alle internationalen Vermittlungs-

versuche der UNO fehlgeschlagen. Viele Sahrauis haben die Hoffnung auf eine Rückkehr begraben.


Die Flüchtlingscamps in der algerischen Wüste sind unwirtliche Ort. Im Sommer steigen die Temperaturen bis auf 50 Grad Celsius. Dazu kommt der Wind, der einem den glühend heissen Sand ins Gesicht peitscht, durch die Ritzen der Häuser dringt, der alles Leben im Keim erstickt.


Der Fotograf Matthis Kleeb begab sich mit seiner Kamera auf Spurensuche in die Flüchtlingscamps. Für seine Bilder erhielt er 2019 den «Globetrotter World Photo Award». «Mir ging es darum, ein Porträt eines Volkes zu zeichnen», sagt Matthis Kleeb. Entstanden sind Bilder, die gerade deshalb politisch aufgeladen sind, weil sie nicht den Widerstand gegen Marokko, den Hass auf die Besatzungsmacht jenseits der Grenzmauer in Szene setzen, sondern den profanen Alltag beleuchten. Es sind Alltagszenen von Menschen, die Sport treiben und ihre Angehörigen bestatten. Es sind Bilder, welche die politische Selbstbestimmung der Sahrauis als Illusion entlarven. Die aber davon zeugen, wie die Vertriebenen jeden Tag die Grenzen des Möglichen ausloten.


Da ist zum Beispiel der Architekt Tateh Lehbib. Wie viele der jungen Generation hat er sein Studium in Spanien absolviert. Und wie viele ist er in das Lager der Sahrauis nach Al-

gerien zurückgekehrt. Er begann damit, PET-Flaschen mit Sand zu füllen und daraus neue Häuser zu bauen. Nicht mehr die traditionellen Zelte oder die rechteckigen Lehmbauten, sondern runde, welche die kühle Luft speichern und dem Wüstenwind wenig Angriffsfläche bieten. «Die Fähigkeit gerade der jüngeren Generation, die Ausweglosigkeit hinters Licht zu führen und neue Ideen zu entwickeln, haben mich stark beeindruckt», sagt Matthis Kleeb.

Einer von ihnen ist auch Taleb Brahim. Er kehrte nach seinem Studium in Syrien und der Türkei ins Flüchtlingscamp zurück. Und mit ihm kam das Gemüse. Dank eines von ihm erfundenen Mikrosystems, das mit wenig Wasser auskommt, wachsen in über 1000 Minitreibhäusern ver-

schiedenste Gemüsesorten. Eine willkommene Abwechslung auf dem Teller der Sahrauis. Denn die internationale Gemeinschaft kürzte die Hilfsgelder für die Vertriebenen in den letzten Jahren stark. Die Mangelernährung in den Camps hat ein besorgniserregendes Ausmass angenommen.


Auch Hindu Mani trägt ein Ihres zu einer abwechslungsreichen Ernährung bei. Sie ist Geschäftsführerin von «Pizza Sahraui», der einzigen Pizzeria im Camp. Pro Tag werden in ihrem Restaurant rund 30 Pizzen über den Tresen gereicht. Das Geld für den Pizzaofen hatte sie bei einem Kochwettbewerb gewonnen.


Überhaupt zeugen Matthis Kleebs Bilder von eindrücklichen Frauenpersönlichkeiten. Sie arbeiten als Lehrerinnen, in der Verwaltung, im Gesundheitswesen. Die starke Rolle der Frauen ist ein Übrigbleibsel aus einer Zeit vor dem Waffenstillstand von 1991. Als die Männer in der Widerstandsbewegung POLISARIO gegen die Besatzungsmacht kämpften. Frauen organisierten die Camps, sie bauten Schulen auf, bekleideten wichtige politische Ämter oder agierten als Friedensaktivistinnen. Wie die Frauen der Menschenrechtsorganisation NOVA. Sie reisen von Camp zu Camp und versuchen vor allem die Jugendlichen von einer friedlichen Lösung im Kampf für Selbstbestimmung zu überzeugen. Dies scheint heute wichtiger denn je. Denn

während die Älteren wissen, was es bedeutet, Krieg zu führen, und für eine friedliche Lösung einstehen, schreckt die jüngere Generation immer weniger davor zurück, erneut zu den Waffen zu greifen. Ihre Enttäuschung über die gescheiterte internationale Diplomatie und die düsteren Zukunftsaussichten im Camp können leicht in gewaltsame Aufstände umschlagen. Von 1999 bis 2005 wurde die Westsahara von einer Reihe blutiger Aufstände gegen Marokko

ergriffen. Doch der Hass der Sahrauis konnte der militärischen Stärke Marokkos nichts anhaben. Ihr Schicksal wird sich auch in Zukunft kaum durch Waffengewalt verbessern lassen.


Wenn sich gegen Abend die Sonne hinter den Dünen versinkt, die Schatten langsam länger werden und sich die Alten hinter der Mauer des Backsteinhauses ihrem traditionellen Stockspiel hingeben, dann treffen sich die jungen Mädchen auf dem Volleyball-Feld. Sie wischen den Sand und den Staub vom Feld: und schlagen den ersten Ball übers Netz.









Matthis Kleeb

Matthis Kleeb, geboren 1987 in Zürich, lebt in Oslo. Seit 2017 arbeitet er als freischaffender Fotograf. In seinen Reportagen setzt er sich in-tensiv mit sozialen Themen auseinander: Bootsflüchtlinge in Sizilien, Arbeitsverhältnisse in Norwegen oder Homophobie in Tansania. Für seine Reportage über die Westsahara «Gestohlene Heimat» wurde ihm 2019 der «Globetrotter World Photo Award» verliehen.






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