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Ludwik Fleck –Eine Frage des Denkstils

Made (published) in Basel


Im Jahr 1935 erschien bei Benno Schwabe in Basel ein ungewöhnliches Buch, so ungewöhnlich, dass seine Zeitgenossen kaum Notiz davon nahmen. Sein Titel lautete: «Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache». Geschrieben vom Arzt

und Bakteriologen Ludwik Fleck. Seine wichtigste Einsicht: Wissenschaftliche Erkenntnis ist kein individueller Prozess, sondern eine Teamleistung.



Ludwik Fleck wurde 1896 als Sohn eines Handwerkers in Lwiw (Lemberg) geboren. Die ukrainische Stadt steht heute unter Dauerbeschuss der russischen Luftwaffe. Damals war sie ein wichtiges kulturelles Zentrum. Aus seinen Gassen drang ein Stimmengewirr aus Deutsch, Polnisch, Jiddisch, Armenisch und Ukrainisch. Der Sohn eines jüdischen Handwerkers Fleck studierte Medizin bei dem bekannten Typhus-Spezialisten Rudolf Weigl. Er beschäftigte sich intensiv mit Wissenschaftstheorie und fühlte sich zu den Philosophen um den Franz Brentano-Schüler Kazimierz Twardowski hingezogen, was ihn wohl zunehmend dazu veranlasste, die gängige Lehre über das naturwissen-schaftliche Erkennen als Märchen zu entlarven: «Es bestehtein sehr verbreiteter Mythos über Beobachtung und Experiment», schreibt Fleck. Forschende gebärden sich nicht selten als Eroberer «vom Typ eines Julius Cäsar», die sich furchtlos in die Schlachten werfen. «Man will etwas wissen,man macht die Beobachtung und das Experiment – und schon weiss man es. Selbst Forscher, die manche Kämpfe gewannen, glauben dieses naive Märchen, wenn sie retrospektiv ihre eigenen Arbeiten betrachten.» Für Fleck kann es eine absolute Wirklichkeit nicht geben. Das Erkennen verändert den Erkennenden. Wer so denkt, ist gegen jede Ideologie gefeit.


Gegen eine verabsolutierte Wirklichkeit anzuschreiben, bedeutete für Fleck auch, gegen zunehmend grassierende Rassentheorien anzuschreiben. Sein Werk ist auch ein Fanal gegen die Schrecken seiner Zeit. Diese bekam er am eigenen Leib zu spüren. Nach der Besetzung Lwiws durch die Nazis, 1941, wurden Fleck, seine Frau und sein Sohn ins jüdische Ghetto und dann nach Auschwitz deportiert. Er arbeitete im serologischen Labor des Hygiene-Instituts der

Waffen SS. 1943 wurde er ins KZ Buchenwald verlegt, wo er für die Häftlinge einen Impfstoff gegen Fleckfieber produzierte und sich als Bakteriologe einen Namen machte.

Ein Kollaborateur war er deshalb nie.


Denkkollektive und Denkstile

Die breite Rezeption des Buches «Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache» durch Wissenschaftstheoretiker wie Thomas S. Kuhn in den 1980er-Jahren erlebte Fleck nicht mehr. Es zählt heute zu den klassischen Werken der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel einer historischen Fallstudie über die sogenannte Wassermann-Reaktion, zur Diagnose der Syphilis, zeigte Fleck, wie sich aus dem Chaos widersprüchlicher Erkenntnisse und Informationen langsam ein «Denkzwang», eine «Tatsache» entwickelt. Dies ist immer ein sozialer Prozess. Denn für Fleck ist Wissenschaft keine «One-Man-Show » einzelner

Geistesgrössen, sondern eine Gemeinschaftsleistung. Er prägte die Begriffe «Denkkollektiv» und «Denkstil». Ersteres meint die Gruppe von Wissenschaftlern eines Faches, Letzteres das erkenntnistheoretische Wissensgebäude, auf dem die Gruppe aufbaut. Denkstile sind grundsätzlich stabil. Ihre Vertreterinnen und Vertreter haben die Tendenz, widerstrebende Meinungen auszublenden. Doch zuweilen kommt es vor, dass das Denkgebäude Risse bekommt, dass der Denkzwang sich lockert, sich die Bedeutung von Begriffen ändert. Dies auch darum, weil die Wissenschaftler eines bestimmten Denkstils immer auch mit einem Bein

im Alltag stehen. Ludwik Fleck schrieb gegen einen naiven Fortschrittsglauben in der Wissenschaft an und er plädierte für die Offenheit gegenüber abweichender Meinungen.

Auch deshalb ist er aktueller denn je: «Das Wissen war zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme

waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch. Wäre es nicht an der Zeit, einen weniger egozentrischen, allgemeinren Standpunkt

einzunehmen und von vergleichender Erkenntnistheorie zu sprechen?» Ja, es ist an der Zeit.


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