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«George Church und die Wiedererfindung der Natur»

Martin Hicklin



M it seinem weissen Vollbart, um den ihn Charles Darwin beneidet hätte, würde er gut in ein Gruppenbild von Naturforschern des 19. Jahrhunderts passen. Doch George Church ist kein Mann von gestern. Der 68-jährige Harvard-Professor für Genetik mit dem lautmalerisch zu Church passenden Vornamen spielt seit Jahrzehnten eine führende Rolle in einer Reihe von Feldern wie der Genomik oder der Synthetischen Biologie. An seinem Beispiel kann man zeigen, wie vielfältig die Lebenswissenschaften geworden sind. Von Anfang an war er beim Humane Genome Projekt dabei, hat sein eigenes Genom sehr früh buchstabieren lassen und Werkzeuge und Methoden entwickelt, mit denen Genome zu steil sinkenden Kosten buchstabiert – und modifiziert werden können. Church empfiehlt jedem, sein eigenes persönliches Buch des Lebens kennenzulernen. Immer mehr neue Dinge werden darin entdeckt und verstanden.


George Church ist leidenschaftlich damit beschäftigt, die Erfindungen, die das Leben über Jahrmillionen gemacht hat, aufzuklären und auf vielfältige Weise zu nutzen. In seinem Buch «Regenesis – oder wie Synthetische Biologie die Natur und uns selbst wiedererfinden wird» legte er 2012 dar, wie das Leben auf unserem Planeten im Laufe der Erdzeitalter seine atembe-

raubende Vielfalt an Erscheinungen und Mechanismen entwickelt hat und wie der Mensch diesen reichen Schatz zu neuen Anwendungen bringen könnte. Das Buch hat eine Auflage von 70 Milliarden. So viele Kopien davon hat Church in seinem Labor in die Bausteinfolgen der Erbsubstanz DNA kodiert. Die Archivausgaben haben Platz auf einem kleinen Fleck, nicht grösser als ein Punkt auf dieser Seite. DNA, so wollte der Genetiker zeigen, ist ein ideales Molekül, um viel Information dauerhaft und extrem platzsparend zu archivieren. Church sieht sich als Teil seines grossen Teams, bewegt sich mit ihm erfinderisch in unglaublich vielen Gebieten und hat um die 40 Startups mitbegründet. Als sich CRISPR als neue Möglichkeit, exakte Genveränderungen zu erzeugen, erwies, zeigte er als Erster, dass man die zielgenaue

Schere auch in menschlichen Zellen anwenden kann. Er war von Anfang an dabei, als der Schweizer Mäzen und Medtech-Unternehmer Hansjörg Wyss vor 13 Jahren sein Wyss Institute in Harvard gründete, wo helle Köpfe vieler Disziplinen zusammen «biologisch inspirierte» und wenn immer möglich kostengünstige neue Techniken entwickeln. Das ist in diesem Beschleuni-

ger bisher so gut gelungen, dass der Namensgeber Ende Oktober noch einmal eine vierte Finanzspritze von 350 Millionen Dollar zugesagt und damit bald eine Dreiviertelmilliarde investiert hat. Klar, dass man George Church gern nach den Wurzeln seiner Genialität fragt. Dann erzählt er auch mal freimütig, dass er als «Neuroatypischer» an Narkolepsie (einem Hang zu Schläf-rigkeit tagsüber) leide und mit Dyslexie umgehen lernen musste. Letztere

habe ihm zwar das Lesen erschwert, dafür aber seinen Umgang mit Bildern und Mustern gefördert.


Im Juli berichtete er mit seinem Postdoc Alex Nyerges und anderen, wie das Darmbakterium Escherichia coli für Viren unangreifbar gemacht werden kann. Weil Viren für die eigene Vermehrung die Maschinerie des Bakteriums nutzen müssen, kann man mit ausgetauschten Codes die Piraten ins Leere laufen lassen. Während das mit umgebautem Genom ausgerüstete Bakterium problemlos mit seinem Ersatz zu Rande kommt, bleibt der Bau von Viren wegen erzwungener Fehler auf der Strecke. Escherichia coli kommt als Arbeitspferd in biotechnischen Prozessen zum Einsatz. Da schützt Virenresistenz vor teurem Ärger. Vorsichtshalber wurde das Bakterium so eingerichtet, dass es nur überlebt, wenn es über eine nicht in der Natur vorkom-

mende Aminosäure verfügen kann. Das ist ein Biocontainment von innen. George Church und sein Team bleiben auf der sicheren Seite.


Viel zu reden gab, dass George Church auch rückwärtsgehen will. Er hält die Zeit für gekommen, mit den vorhandenen und rasant ausgebauten Techniken ausgestorbene Lebewesen oder genauer verlorene Teile von deren Fähigkeiten wiederauferstehen zu lassen. «De-Extinction» ist das Schlagwort und hat zumindest im ersten Projekt mit Klimawandel zu tun. Wenn alles nach Plan geht, sollen Nachfolger des Wollmammuts wieder über die sibirische Tundra trampeln und dabei helfen, sie in grasreiche buscharme Steppe umzuwandeln und den Permafrost gefroren zu halten. Mit dem Unternehmer Ben Lamm wurde eine Firma mit dem passenden Namen «Colossus» gegründet, und inzwischen ist auch etwas Geld zusammengekommen. Da von dem vor 4000 Jahren verschwundenen Wollmammut zwar ge-

frorene Überreste, aber keine lebenden Zellen vorhanden sind, kann das majestätische Tier nicht wie Dolly geklont werden. Ersatzweise hat man im Genom der Zellen des mit dem Mammut verwandten asiatischen Elefanten einzelne Gene mit passenden des Mammuts vertauscht, in der Hoffnung, die Kältetoleranz der Dickhäuter zu erhöhen, etwa was Fettansatz, Behaarung oder die Grösse der Ohren betrifft. Ob und wann ein neu behaarter asiatischer Elephas maximus das Licht der Welt erblickt, bleibt offen. Tragzeiten

bei den Dickhäutern sind lang. Vielleicht, so heisst es, brauche es gar eine künstliche Gebärmutter, die man noch entwickeln müsste. Das kann dauern.


Zudem ist es auch über Sibirien finster geworden. Da kommt Colossus wohl schneller mit dem im Vergleich zum Mammut zierlichen Tasmanischen Tiger Thylacinus cynocephalus voran. Das am Hinterteil hübsch gestreifte hundeähnliche Tier ist seinerzeit gezielt von Schafzüchtern ausgerottet worden. Der letzte Vertreter der Art starb 1936 im Zoo. Ein aus einem in Alkohol aufbewahrten Foetus gewonnenes Genom ist buchstabiert. Diesmal braucht es keine Gebärmutter. Der «Tiger» zählt zu den Beuteltieren, deren Junge eine erste Zeit in einer Aussentasche heranwachsen. So könnte das Neutier vielleicht am heiklen Anfang bei einem anderen Beuteltier unterkommen. Was auch immer passiert, man hofft, wertvolle Erfahrungen zu sammeln und den Fortschritt der Techniken zu beschleunigen, die der Wieder- und Umerfindung der Natur dienen.


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